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Wie Antisemitismus belohnt wird

Oder: Judenfreie Zonen in der deutschen Shoah-Gedenkkultur am Beispiel der Eberswalder Initiative "Spuren jüdischen Lebens in Eberswalde" - ein persönlicher Erfahrungsbericht von Mirjam Silber

Beim Neujahrsempfang von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier wurde Ellen Grünwald für ihre langjährige Gedenkarbeit zur jüdischen Geschichte Eberswaldes ausgezeichnet[1] – kol hakavod! Ihr Engagement ist bewundernswert, es ist großartig, was sie geleistet hat, das alles hat in der Tat Anerkennung verdient. Wenn nicht … tja, wenn die Sache nicht einen Haken hätte, einen antisemitischen nämlich.

Das weit verbreitete Phänomen in der deutschen Shoah-Erinnerungskultur, Gedenken ohne Jüdinnen und Juden zu machen, hat auch in Eberswalde Tradition. Per se ist das noch nicht antisemitisch, demonstriert aber, dass jüdische Menschen nicht wirklich dazugehören, vielfach auch, dass jüdische Menschen unsichtbar sind bzw. unsichtbar gemacht werden. Eifrig und geflissentlich werden von Gojim Gedenkorte für Jüdinnen und Juden geschaffen, aber nicht mit ihnen, Gedenkveranstaltungen über Jüdinnen und Juden durchgeführt, aber nicht mit ihnen. Es wird über Jüdinnen und Juden geredet, aber nicht mit ihnen.

So richtig antisemitisch wird es erst dann, wenn zufälligerweise mal doch ein jüdischer Mensch in einer gojischen Gedenkinitiative mitwirkt, schlussendlich aber rausgeschmissen wird. Einfach so. Denn um Jüdinnen und Juden rauszuwerfen, braucht es keinen Grund, es reicht, dass sie jüdisch sind.

 

Genau das ist mir im Juni 2023 passiert: Nachdem ich über ein Jahr ehrenamtlich in der Initiative „Spuren jüdischen Lebens in Eberswalde“ mitgearbeitet hatte, wurde ich – als einzige Jüdin im Team und als einzige, die fähig und willens ist, über jüdische Alltagswelten und jüdische Religion, Kultur und Geschichte aufzuklären – plötzlich aus heiterem Himmel, ohne Anlass und ohne Grund rausgeschmissen, noch dazu hinterrücks (d.h. ohne das Gespräch mit mir zu suchen, nicht einmal ein Gesprächsangebot wurde mir gemacht)! Treibende Kraft dieser antisemitischen Mobbingaktion war Ellen Grünwald. Lapidare „Begründung“ – wie mir Frau Grünwald im Namen der Initiativenmitwirkenden am 18.06.2023 per E-Mail (!) mitteilte – war, dass sich unsere Initiative entschlossen hat, nicht weiter mit Dir zusammen zu arbeiten [sic!]. Dass Du die jüdische Perspektive in die Initiative bringst, war ein Gedanke, den wir sinnvoll und produktiv fanden. Wir haben jedoch festgestellt, dass Deine Vorstellungen und Aktivitäten nicht mit unserer Arbeits- und Herangehensweise korrespondiert [sic!]. Weil ich in ihren Augen nicht zu ihnen passe, werde ich kurzerhand – ohne weitere Erklärung, ohne Gespräch, ohne Entschuldigung – ausgeschlossen. Wenn Mitwirkende einer Shoah-Gedenkinitiative die einzige Jüdin rauswerfen, noch dazu in solch ungeheuerlicher Manier, dann ist das antisemitisch. Und mit der Würdigung von Ellen Grünwald im Schloss Bellevue wird dieser Antisemitismus nun auch noch belohnt.

 

Was also waren meine Vorstellungen und Aktivitäten?

Über ein Jahr lang hatte ich bereits erfolgreich in der Initiative ehrenamtlich mitgearbeitet (Guided tours zum Synagogendenkmal, zu Stolpersteinen und zur jüdischen Geschichte Eberswaldes durchgeführt, mit Führungen für Studierende sogar die HNEE dazugewonnen, Networking und PR für die Initiative gemacht, dabei stets Ellen Grünwalds großes Verdienst hervorgehoben). Regelmäßig kam ich zu den Initiativen-Treffen, brachte mich engagiert ein – auch mit meiner wissenschaftlichen Expertise, bot den Initiativenmitgliedern an, sie an meinem jüdischen Insiderwissen teilhaben zu lassen u.v.m.; die Stimmung war stets freundlich, nie gab es Probleme oder gar Differenzen, nie wurde auch nur die kleinste Andeutung gemacht, dass wir etwa unvereinbare Arbeits- und Herangehensweisen hätten.

 

Am 1. Juni 2023 fand – wiederum in guter Laune – eine Teamsitzung statt, bei der u.a. die Einsatzbereiche der ehrenamtlich tätigen Mitglieder neu definiert wurden. Mein Angebot, zusätzlich zu den Führungen etc. bei wissenschaftlicher Recherche mitzuwirken, mich um eine Stolpersteine-App zu kümmern und eine Website für die Initiative zu erstellen, wurde mit einhelliger Freude aufgenommen.

Doch am 18.06.2023 kam dann plötzlich – völlig aus heiterem Himmel – die E-Mail mit dem Rauswurf.

Ich war schockiert und zutiefst verletzt, denn die Nachricht traf mich gänzlich unvorbereitet. Nicht das geringste Anzeichen gab es, dass jemand aus der Initiative ein Problem mit mir hatte, im Gegenteil: Alle waren freundlich und beim kurz zuvor abgehaltenen Meeting wurden neue Pläne geschmiedet (wie bereits oben geschildert).

Tatsächlich aber hatten sich die Initiativenmitglieder hinter meinem Rücken getroffen, um mich rauszuwerfen, wenngleich es für so einen drastischen Schritt weder einen Grund noch einen Anlass gab. Ich hatte mir nichts zu Schulden kommen lassen und bislang mit niemandem irgendwelche Schwierigkeiten. Doch die Mitglieder der Initiative (welche übrigens bloß ein lockerer Zusammenschluss von Privatpersonen ist, kein Verein mit Rechtsstatus) hatten nicht einmal den Anstand, mir ein persönliches Gespräch anzubieten, sie wollten mich einfach nur aus irrationalen Gründen loswerden. Andere Menschen so zu behandeln, ist unfair, respektlos und gemein; menschlich gesehen ist solch ein Vorgehen letztklassig!

 

Im ersten Moment war es „nur“ die Kränkung über den unverdienten Rauswurf und über die fiese, hinterhältige Durchführung, die ich schmerzlich verspürte! Doch bald darauf wurde mir auch die antisemitische Komponente dieses Vorfalls – ebenso schmerzlich – bewusst, was in meiner Entgegnung vom 19.06.2023 herauszulesen ist:

 

Ihr fandet es sinnvoll und produktiv, dass ich die jüdische Perspektive einbringe? Davon habe ich leider nichts bemerkt. Bis auf den Sukkot-Abend mit Ellen (der übrigens auf meine Einladung zurückging) interessierte sich bislang niemand von Euch je für jüdisches Leben. Ihr macht – als Gojim – Führungen zu jüdischen Themen, doch wisst Ihr kaum etwas über jüdische Symbole und Riten, über jüdisches Alltagsleben. Und nun, da Ihr eine jüdische Insiderin zur Seite habt, die gern und bereitwillig ihr Wissen und ihre Erfahrungen mit anderen teilt, nehmt Ihr diese Chance auf Horizonterweiterung und Fortbildung nicht wahr, verstoßt sie gar – das ist echt nicht zu fassen!

Zwar anerkenne und schätze ich Euren, vor allem Ellens Verdienst wirklich sehr, aber es ist eine Anmaßung von nicht-jüdischen Menschen, ÜBER jüdische Menschen zu sprechen anstatt sie selbst zu Wort kommen zu lassen – Stichwort: Goyish Supremacy. Von Kritischem Nicht-Jüdisch-Sein ist das noch meilenwert entfernt.

 

Auffallend war nämlich während der ganzen Zeit meiner Mitwirkung bei den „Spuren jüdischen Lebens in Eberswalde“, dass niemand aus der Initiative, auch nicht die Initiativenleiterin Ellen Grünwald, Interesse für jüdische Lebenswelten im Hier und Heute zeigte. Diese Menschen hatten eine Jüdin als Teammitglied, noch dazu eine Jüdin, die viel über jüdische Religion, Kultur und Geschichte weiß, außerdem gern zur Auskunft bereit ist, aber niemand wollte etwas wissen. Keineswegs aufgrund ihres besonders hohen Kenntnisstandes, sondern weil es sie einfach nicht interessierte. Vielmehr offenbarte sich auch hier, dass es besonders typisch für die nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft ist, wie wenig bis gar nichts sie über jüdisches Leben wissen. Eigentlich erschreckend, bei all der deutschen Historie. Es wird viel über tote (ermordete) Jüdinnen und Juden fabriziert und fabuliert, um die braune Weste wieder weiß zu waschen, aber mit lebenden Jüdinnen und Juden wollen sie nichts zu tun haben. Werden Deutsche (selbst Deutsche, die in der Gedenkkultur aktiv sind) gefragt, welche jüdischen Feiertage es gibt, welche symbolische Bedeutung diese Feiertage haben, wie die Feierlichkeiten stattfinden …, was sie über Tora, Talmud usw. wissen, über Sprache und Schrift, über Symbolik und Tradition …, dann wissen sie nichts oder – im besten Fall – fast nichts.

Wünschen uns die Gojim zum jüdischen Neujahr „Shana tova u'metuka“? Nein, woher denn! Letztendlich ist es auch nach über 1700 Jahren jüdischem Leben in Deutschland immer noch so, dass mir nichtjüdische Menschen (sogar die, die wissen, dass ich jüdisch bin), trotzdem „Frohe Weihnachten“ und „Frohe Ostern“ wünschen und dann im besten Fall mit Erstaunen und im schlimmsten Fall mit Aggressionen reagieren, wenn ich darauf „Happy Chanukka“ oder „Pessach sameach“ antworte.

 

Was hat es eigentlich mit der lapidaren „Begründung“ für den Rauswurf auf sich, dass Deine Vorstellungen und Aktivitäten nicht mit unserer Arbeits- und Herangehensweise korrespondiert [sic!]? Ist es denn nicht völlig normal, dass jeder Mensch etwas anders an die Dinge herangeht? Das ist doch kein Nachteil, sondern Bereicherung und Vielfalt! Jedoch auch dieser Ausspruch wird unter dem Aspekt von Goyish Supremacy erklärbar bzw. durchschaubar. Es enttäuscht mich nur bei Frau Grünwald ganz besonders, denn gerade von ihr hätte ich mehr Aufgeklärtheit und Offenheit erwartet.

Mit der hinterhältigen Mobbing-Aktion von Ellen Grünwald & Co unter dem Motto, ich würde nicht zu ihnen passen, sowie der darauffolgenden Ausgrenzung einer Jüdin aus der gojisch determinierten Gedenkinitiativengruppe kommt der uralte Antisemitismus hervor, dass Jüdinnen und Juden „anders“ und „die Fremden“ seien, die nicht zur Gesellschaft dazugehören.

Symptomatisch für diese Mentalität, jüdische Menschen quasi als Aliens anzusehen, ist auch ein Ausspruch von Ellen Grünwald in einem rbb-Interview: Beim Kennenlernen der früheren jüdischen Bewohnerin ihres Eberswalder Hauses, war ihr erster Gedanke: Eine echte Jüdin.[2] Gibt’s uns etwa auch in „unecht“?! Als ob wir Jüdinnen und Juden vom Mars oder gar aus einer anderen Galaxie kämen. Für Menschen wie Ellen Grünwald ist jüdisches Leben komplett weg[3] – dass es heute (sogar in Eberswalde!) wieder Jüdinnen und Juden gibt, wird völlig ausgeblendet. Das Bewusstsein für jüdische Lebenswelten ist zusammen mit deren Auslöschung verschwunden oder vielmehr wurde alles totgeschwiegen. Tauchten später unvermutet denn doch wieder vereinzelt Jüdinnen und Juden auf, galten diese als „exotisch“, quasi „die Letzten ihrer Art“ (es fehlte nur noch, dass man sie den Schaulustigen in Käfigen darbot), denn vielfach hieß es (und heißt es z.T. auch heute): Juden? Ja, gibt’s die denn überhaupt noch?

Die Intention von Frau Grünwalds Gedenkarbeit ist es, die Erinnerungen an die Menschen wachzuhalten.[4] Das ist anerkennenswert und ehrenvoll, wenn da nicht zugleich diese seltsame und wirklichkeitsferne Auffassung wäre, jüdisches Leben existierte nur in der Vergangenheit. Und noch viel seltsamer mutet an, dass sie gar nicht weiß, was „jüdisches Leben“ überhaupt ist, welche Vielfalt es gab und auch heute gibt.

In all den Jahren, in denen sich Ellen Grünwald & Co – unbestreitbar in verdienstvoller Weise – für die Erinnerung an die Shoah eingesetzt haben, wurde völlig ausgeklammert, dass es in Deutschland (und sogar in Brandenburg) in der postnationalsozialistischen Zeit nichtsdestotrotz jüdisches Leben gab/gibt. Jüdischen Spuren nachzugehen, um daraus (gewissensberuhigende) Gedenkkultur zu machen, das ist etwas komplett anderes, als sich auf Augenhöhe mit lebenden Jüdinnen und Juden auseinanderzusetzen, sie als selbstverständlichen Teil der Gesellschaft anzusehen. Charakteristisch für die christlich-deutsche Mehrheitsgesellschaft ist die Ignoranz gegenüber andersgläubigen, insbes. jüdischen Menschen. Denn Tatsache ist, dass die Initiativenmitglieder so gut wie nichts zum jüdischen Alltagsleben, zur jüdischen Kultur und jüdischen Religion wissen (wollten).

ÜBER tote (ermordete) Jüdinnen und Juden Gedenkkultur zu machen, aber MIT lebenden Jüdinnen und Juden nichts zu tun haben zu wollen und sogar in der Erinnerungskultur zur Shoah „judenfreie“ Zonen zu schaffen, das erzeugt jedenfalls eine extrem schiefe Optik. Ein Miteinander auf Augenhöhe? Dieser antisemitische Vorfall zeigt nur allzu deutlich, dass die nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft – nachgerade im Shoah-Gedenken – dazu nicht bereit ist. Insofern sind auch die wahren Beweggründe für die Erinnerungskultur zu hinterfragen.

 

Die Mentalität der Initiativenmitglieder sei hier anhand von Ellen Grünwald dargestellt, die sich schon seit vielen Jahren in verdienstvoller Weise für die Aufarbeitung der jüdischen Geschichte Eberswaldes einsetzt – das ist wahrlich anerkennenswert und sei ihr auch unbenommen. Dieselbe Frau aber wirft die einzige jüdische Mitwirkende der Gedenkinitiative grundlos hinaus, auf eine Art und Weise, die völlig unter der Gürtellinie ist. Wie passt das zusammen? Einerseits die hingebungsvolle Beschäftigung mit jüdischer Geschichte, andererseits die Ablehnung und Abweisung heute lebender Jüdinnen und Juden – Dichotomie einer kognitiven Verzerrung? Oder doch „normale“ gojische Denkmuster? Stehen wir heute lebenden Jüdinnen und Juden als Substitute für die Schuld, die nichtjüdische Menschen während der Shoah auf sich geladen haben, als sie bei den Nazigräuel wegschauten oder gar mitmachten? Das würde bedeuten, dass wir sie – auch generationenübergreifend – an dieses große Unrecht erinnern, selbst wenn dies gar nicht unser Ansinnen ist. Jedoch allein unsere Anwesenheit wäre in ihren Augen dann der Beleg für ein Verschulden, an das sie nicht erinnert werden wollen. Deshalb möchten sie nichts mit uns zu tun haben – aus den Augen, aus dem Sinn. Das wäre ein Erklärungsansatz für den unfassbaren antisemitischen Vorfall.

Noch dazu hat sich Ellen Grünwald schon vor meiner Eberswalder Zeit mit einer anderen Jüdin überworfen, nämlich mit der Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Landkreis Barnim e.V. – es ging dabei um die jüdischen Friedhöfe in Eberswalde, welche unter Verwaltung der Jüdischen Gemeinde LK Barnim stehen. Im Grunde erhielt Ellen Grünwald von der Jüdischen Gemeinde LK Barnim nie die Erlaubnis, die jüdischen Friedhöfe zu begehen. Trotzdem nutzen sie und ihre Initiativenmitglieder die jüdischen Friedhöfe für ihre Führungen, erledigen eigenmächtig „Aufräumarbeiten“ und betreiben vor Ort Forschungen – sie tun das mit einem auf Goyish Supremacy beruhenden Selbstverständnis, als würde alles ihnen gehören. Sie führen über jüdische Friedhöfe, haben aber keinen blassen Schimmer von jüdischen Begräbnis- und Trauerriten, genauso wie sie Führungen zum Synagogendenkmal anbieten, aber selbst noch nie in einer Synagoge waren und nichts über jüdische Gottesdienste wissen.

Dabei betont Ellen Grünwald immer wieder, dass sie sich seit mehr als 20 Jahren mit der jüngeren jüdischen Geschichte der Stadt Eberswalde[5] beschäftigt – und trotzdem hat sie in all den vielen Jahren nichts über jüdische Feste, Gebräuche, Riten und Symbole, über jüdische Kultur und Religion gelernt …

 

Wahrscheinlich spielt auch Neid eine Rolle bei dieser antisemitischen Mobbing-Aktion. Als erfahrene Wissenschaftlerin habe ich innerhalb kürzester Zeit eigenständig und allein alles an öffentlich zugänglichen Materialien über die jüdische Geschichte Eberswaldes recherchiert und studiert (ohne dieses Wissen hätte ich meiner Meinung nach keine Führungen anbieten können). Von Ellen Grünwald oder anderen Initiativenmitgliedern erhielt ich dabei keine Unterstützung. Ich habe mich zwar diesbezüglich nie beschwert, aber prinzipiell ist es nicht in Ordnung, dass sich ehrenamtliche Mitwirkende sämtliche Informationen in Eigenregie beschaffen müssen und auch keine Informationsmaterialien für Guided tours zur Verfügung gestellt bekommen.

Natürlich bringe ich als Akademikerin, ehemalige Universitätsdozentin und Ethnomusikologin mit Schwerpunkt jüdische Kultur jede Menge an Hintergrundwissen mit. Zudem war ich schon seit Langem in der Bewusstseinsbildung und Aufklärung zum Judentum tätig. Im Grunde wäre ich ein Gewinn für die Initiative gewesen und vor allem wäre endlich auch eine jüdische Insiderin mit dabei. Aber offensichtlich war der gojischen Gruppe die jüdische Insiderperspektive nicht genehm, die Initiativenmitglieder wollten lieber „unter sich“ bleiben, quasi „judenfrei“ sein.

Das ist der ganz „normale“ deutsche Alltagsantisemitismus, nachgerade bei denen, die sich so philosemitisch geben: Erinnerungskultur ja, aber lebende Jüdinnen und Juden nein – ein altbekanntes Phänomen, leider auch noch im heutigen Deutschland.

 

Ich empfinde es als Antisemitismus, wenn ich mich als einzige Jüdin bei einer Shoah-Gedenkinitiative aktiv einbringe und nach über einem Jahr ehrenamtlichen Engagements ohne Anlass, ohne Grund und ohne Gespräch (!) in einer hinterhältigen Mobbing-Aktion rausgeschmissen werde. Die Kränkung darüber machte mir so zu schaffen, dass ich – eine Seniorin mit Schwerbehinderung und chronischen Schmerzen – monatelang darunter zu leiden hatte, nicht nur seelisch, sondern auch körperlich, weil sich naturgemäß jeder psychische Schmerz auf die Physis auswirkt und die Resilienz bei Menschen mit Behinderung generell nicht besonders hoch ist. Ich erlitt kontinuierliche Schmerzschübe, sodass ich meine Schmerzmedikation um ein Vielfaches erhöhen musste und längere Zeit nur eine massiv eingeschränkte Lebensqualität hatte. Von dieser schweren Leidensphase konnte ich mich nur mühsam und langwierig erholen. Nicht nur die Tatsache, dass antisemitische Vorfälle stattfinden, muss dokumentiert werden, sondern auch, was das mit den Betroffenen macht, welche fatalen Auswirkungen das auf die Betroffenen hat.

 

Zudem hatte dieser antisemitische Vorfall auch noch ein weiteres böses Nachspiel. Auf meiner Website Jewish Eberswalde beschreibe ich die Situation der Eberswalder Gedenkkultur wahrheitsgemäß folgendermaßen (siehe Unterseite Heimatforschungen und Gedenkkultur):

 

Ellen Grünwald gründete auch die Initiative „Spuren jüdischen Lebens in Eberswalde“ und bietet Führungen an, was anerkennenswert und verdienstvoll ist, aber leider – wie häufig in Deutschland – liegt auch hier die Erinnerungskultur an die Shoah fest in gojischer, also nicht-jüdischer Hand. Jüdinnen und Juden, die sich aktiv engagieren, sind in dieser Eberswalder Initiative unerwünscht (siehe hierzu auch mein Blogartikel Jewish heritage in Eberswalde – Jüdischsein aus emischer und etischer Sicht).

 

Als „Feedback“ erhielt ich von mehreren Personen, die entweder Mitglied der Initiative „Spuren jüdischen Lebens in Eberswalde“ sind oder ihr nahestehen, Vorwürfe zu meiner Darstellung der Fakten; bspw. in der Form: Dass du den letzten Satz noch anfügst, löst bei mir aber Unbehagen aus. Auch wurde mir Negative Campaigning vorgeworfen und außerdem wurde mir geraten, ich solle den Text umformulieren, denn Ellen Grünwald & Co hätten es doch sicherlich nicht so gemeint … „typisch deutsches“ Bagatellisieren und Ignorieren von Antisemitismuserfahrungen.

Es ist ein häufig anzutreffendes Phänomen, dass beim Aufzeigen von Antisemitismusvorfällen nicht der antisemitische Vorfall selbst Empörung findet, sondern sich die Empörung gegen die von Antisemitismus Betroffenen richtet, weil sie diesen Vorfall zur Sprache bringen (typisches Gaslighting und Tone Policing der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft, entstanden aus Goyish Supremacy bzw. Goyish Fragility). Dieses Victim Blaming geht in vielen Fällen sogar bis zur Täter-Opfer-Umkehr.

Wo bleibt das „Unbehagen“, die Empörung, der moralische Aufschrei über den antisemitischen Vorfall durch Ellen Grünwald & Co? Wie das zustande kam und wie damit umgegangen wird (nämlich es unter den Teppich zu kehren oder es als „normal“ abzutun), erinnert leider nur zu gut an all die antisemitischen Übergriffe gegen Jüdinnen und Juden in der NS-Zeit. Abgesehen davon, dass Nazis und Nazi-Sympathisant:innen (und andere Extremist:innen) prinzipiell allen jüdischen Menschen nur das Schlechteste wünsch(t)en, wurde (wird) bei antisemitischen Übergriffen mehrheitlich weggeschaut, alles wurde (wird) bagatellisiert oder gar ignoriert.

Jüdischen Menschen Berufsverbot erteilen, jüdische Geschäfte boykottieren, jüdische Lehrende und Studierende aus den Universitäten rausschmeißen ... all das und noch viel mehr unfassbares Unrecht wurde in der NS-Zeit einfach so hingenommen. Warum konnte es Hitler und seinen Gefolgsleuten gelingen, ein systematisches Mordsystem solchen Ausmaßes zu errichten? Nur wegen all der Mitläufer:innen, die weggeschaut, gar mitgemacht haben! Wenn seinerzeit politische, kirchliche und zivilgesellschaftliche Verbände, Bildungs- und Wissenschaftsinstitutionen etc. und auch die Bevölkerung schon die ersten Anfänge an Unrecht, Demütigungen, Ausgrenzungen und Gewaltakten nicht zugelassen hätten, dann wäre es niemals so weit gekommen. Aber nein, anstatt öffentlich dagegen aufzustehen, haben die meisten geschwiegen ...

Genauso wie alle Mitglieder der Initiative „Spuren jüdischen Lebens in Eberswalde“ auch über das Unrecht meines Rauswurfs geschwiegen, ja gar mitgemacht haben.

„Wehret den Anfängen!“ – wie gern bei Gedenkfeiern zum Novemberpogrom gemahnt wird ... dass ich nicht lache (obwohl es ja eigentlich zum Heulen ist)! Wie wird mit dem alltäglichen Antisemitismus umgegangen? Wie weit ist die Mehrheitsgesellschaft sogar darin verstrickt? Das, was hier durch Ellen Grünwald & Co geschehen ist, das ist genau so ein „Anfang“. Was für eine Scheinheiligkeit! Wer fragt danach, wie groß wohl mein „Unbehagen“ ob dieses antisemitisch motivierten Rauswurfs war?! Und zuletzt erfährt diese unterschwellige antisemitische Gesinnung auch noch Bestätigung durch eine honorable Würdigung beim Bundespräsidenten! Als gebürtige Wienerin fällt mir dazu ironischerweise Nestroy ein: Die Welt steht auf kein‘ Fall mehr lang, lang, lang, lang, lang, die Welt steht auf kein‘ Fall mehr lang.

 

Aus all diesen genannten Gründen ist es mir wichtig, dass der Vorfall mit Ellen Grünwald und der Initiative „Spuren jüdischen Lebens in Eberswalde“ als das dokumentiert und benannt wird, was er tatsächlich ist: Antisemitismus. Deshalb schreibe ich öffentlich darüber, deshalb übermittelte ich diesen komplexen Fall auch an RIAS, fab und andere Dokumentationsstellen für Antisemitismus. Es handelt sich hier um eine sehr subtile Form von Antisemitismus, aber gerade deshalb ist es notwendig, dies aufzuzeigen, denn diesem „getarnten“ Antisemitismus begegnen Jüdinnen und Juden in ihrem Alltagsleben weit häufiger als ihnen lieb ist. Und seitens der Täter:innen findet sich keinerlei Unrechtsbewusstsein, ganz im Gegenteil, sie machen weiter wie bisher und lassen sich sogar vom Bundespräsidenten belobigen!

Mir ist völlig unverständlich, warum es überhaupt so weit kommen konnte, nachdem ich diesen Fall doch gemeldet hatte. Wozu gibt es Beratungs- und Dokumentationsstellen? Warum wurde nicht ausreichend recherchiert, wem eine Würdigung zuteilwerden soll? Allein bei einer simplen Google-Suche mit den Stichworten „Eberswalde jüdisch“ erscheint als erstes Ergebnis meine Website Jewish Eberswalde, worin sehr wohl eine kritische Bemerkung zu Ellen Grünbergs Gedenkinitiative zu finden ist. Das hätte doch zu denken geben müssen …

Google-Suche "Eberswalde jüdisch" - Screenshot vom 15.01.2024

Von Gojim, die sich zur Aufarbeitung der jüdischen Geschichte engagieren, wird a priori angenommen, es seien gute Menschen. Jedoch ihre wahren Beweggründe, ihre Haltung und Einstellung zu heute lebenden Jüdinnen und Juden werden nicht hinterfragt. Ich finde, Ellen Grünwald kann noch so viel zur Gedenkkultur geleistet haben, jedoch mit ihrer antisemitischen Ausgrenzung der einzigen Jüdin in ihrer Initiative und mit ihrem Unwillen zur Zusammenarbeit mit der für die jüdischen Stätten in Eberswalde verantwortlichen Jüdischen Gemeinde Landkreis Barnim e.V. hat sie sich disqualifiziert und ist keineswegs würdig für eine Auszeichnung.

PS: Seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 leben Jüdinnen und Juden in Israel und weltweit in Schock, Trauer und Angst. Überall sind wir von Gewalt und Mord bedroht, nachdem die Terrororganisation Hamas bereits zum wiederholten Mal dazu aufgerufen hat, jüdische Menschen auf der ganzen Welt – also auch in Deutschland – anzugreifen und zu töten. Antisemitische Übergriffe haben sich deutschlandweit in kürzester Zeit vervielfacht. Trotz dieser Bedrohungslage, die uns in Angst und Schrecken versetzt, erhielt ich bis heute weder von Ellen Grünwald noch aus den Reihen der Initiativenmitglieder irgendein Zeichen der Anteilnahme oder Solidarität.

 

PPS: Auf mein Entgegnungsschreiben bekam ich von Ellen Grünwald & Co nie eine Antwort. Lediglich eine einzige der Initiativenmitglieder entschuldigte sich bei mir. Doch auch von ihr gab es nach dem „Schwarzen Schabbat“ keinerlei Solidaritätszeichen.

 

© Mirjam Silber 2024

 


[1] Siehe: Richter, K.: In der Gesellschaft, in: Jüdische Allgemeine Nr. 2/24, 11. Januar 2024, S. 9.

Online: https://www.juedische-allgemeine.de/unsere-woche/in-der-gesellschaft/ (zuletzt abgerufen am 15.01.2024).

[2] Nowak, M.: Schicksale im Fokus. Eberswalderin forscht zu jüdischem Leben im Barnim, in: rbb24, 05.09.2023: https://www.rbb24.de/studiofrankfurt/beitraege/2023/09/juden-eberswalde-forschung-vorgestellt-ellengruenwald-holocaust-erinnerung-synagoge.html (zuletzt abgerufen am 15.01.2024).

[3] Ebd.

[4] Richter, K.: In der Gesellschaft, in: Jüdische Allgemeine Nr. 2/24, 11. Januar 2024, S. 9.

Online: https://www.juedische-allgemeine.de/unsere-woche/in-der-gesellschaft/ (zuletzt abgerufen am 15.01.2024).

[5] Ebd.

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